KAPITEL 1
Ein fulminanter Start- Deutschland entdeckt Marquee Moon
1. Januar 1984. Das Orwell-Jahr beginnt.
Erinnerst Du dich noch?
Das Orwell-Jahr war mit vielen Hoffnungen und Befürchtungen verbunden. Mit Befürchtungen dahingehend, das Georges Orwells bedrohliche Vorstellungen eines totalitären Überwachungsstaates alsbald Wirklichkeit werden könnten und mit Hoffnungen insofern, als dass es schon nicht so schlimm kommen würde. Gegen Ende des Jahres machte sich Erleichterung breit, da die beunruhigenden Ahnungen nun doch nicht eingetreten waren, allerdings gemischt mit der Sorge, dass Orwells unheilvolle Zukunftsaussichten möglicherweise erst noch bevorstanden und er sich nur im Jahr „geirrt“ hatte.
Deshalb besaß auch „No Future“, der Schlachtruf der englischen Punk-Bewegung aus den siebziger Jahren, für viele Kids noch immer seine Legitimität. Diese Losung war weiter aktuell, denn es lag eine gewisse Hoffnungslosigkeit in der Stimmung vieler Jugendlicher. Gleichzeitig hatte auch ein anderer Slogan: „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ für manche der Heranwachsenden eine ambivalente Gültigkeit.
Aber gerade davon, von dieser unmöglichen Möglichkeit, wollten vier junge Berliner Burschen gerne Gebrauch machen und ihre Chance, die sie vielleicht nicht hatten, allen Widrigkeiten und allem angesagten Pessimismus zum Trotz, nutzen.
Davon und vor allem davon, wie es dann weiterging erzählt unsere Geschichte. Sozusagen die „Akte M“, die Akte Marquee Moon. Hierbei geht es jedoch nicht nur um allgemeine, vielleicht schon bekannte Informationen rund um die Band, wie die Höhen und Tiefen der Bandgeschichte, die unterschiedlichen, faszinierenden Bandmitglieder oder die zum Teil stürmisch gefeierten Veröffentlichungen der Gruppe.
Hier berichten wir aus dem innersten Kreis der Marquee Moons. Hier schauen wir hinter die Kulissen und lüften für dich den Schleier der Erkenntnis. Hier gehen wir einigen unglaublichen Ereignissen, über die schon seit Jahren nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wird, auf den Grund. Hier wirst Du Dinge erfahren, von denen Du noch nie zuvor gehört hast, Hintergründe von denen Du bisher nichts wusstest und die Du auch nur hier erfahren wirst. Du erhältst einen faszinierenden, spannenden Einblick in die zum Teil mystische und geheimnisvolle Innenwelt der einstigen Idole schwarzgekleideter Menschen:
Tauch ein in die phantastische Welt von Marquee Moon.
Don't Go Out Tonight- oder: Die Reifeprüfung
Anfang des Jahres 1984 erschien die erste Marquee Moon-Single: Don't Go Out Tonight mit der Rückseite Searching. Die 7“ Single, ganz in blauem Vinyl gehalten, wurde von der Band nicht nur selbst produziert sondern auch selbst in den Handel gebracht. Die beiden Songs hatte die Band auf eigene Kosten ein paar Wochen zuvor in einem Berliner Ton-Studio aufgenommen und anschließend an ein Presswerk geschickt. Da sie noch keinen Vertrieb für die Schallplatte hatten, gingen Nigel Degray und Skid Byers Tag für Tag durch die Plattenläden Berlins und boten ihre Platte zum Verkauf an. Gleichzeitig schickten sie die Single an die verschiedensten Musikzeitschriften, Magazine, Zeitungen und Fanzines sowie an Rundfunk und Fernsehsender. Und das Ergebnis blieb nicht aus. Plötzlich ging alles ganz schnell. Mit solch einer Wirkung hatte keiner von ihnen gerechnet.
Die vier Moonatics, wie das Stadtmagazin Zitty (13) sie später wohlwollend nannte, wurden geradezu vom Erfolg überrollt. Bereits nach kurzer Zeit wurde ihnen die Platte förmlich aus den Händen gerissen. Es setzte ein wahrer Run auf die blaugefärbte Scheibe ein. Die Band konnte gar nicht so schnell liefern wie sich die Platte verkaufte.
Das in Hamburg erscheinende Magazine Go for Gold war sofort begeistert und titelte: „Schon ihre erste Single sorgt für Aufsehen“. (14) Die bundesweit erscheinende Musik Szene notierte: „Diese erste, selbstproduzierte Single von Marquee Moon kann sich hören lassen. Speziell die Rückseite Searching erinnert mit fließenden, leicht hypnotischen Harmonien an englische Bands wie z.B. Echo & The Bunnymen“. (15)
Und das renommierte Berliner Stadtmagazin Zitty schrieb: „Don't Go Out Tonight erinnert an alte Cure-Songs ist nur etwas schneller und härter. Ein gut durcharrangierter Song, der sich leicht ins Ohr schmeichelt. Die Band zeigt, dass man auch ohne großen technischen Aufwand gute Musik machen kann. Die sehr britisch klingende Gitarrenpopband wird zu den großen Hoffnungen der Berliner Szene gerechnet“. (16) Und dementsprechend rauschte es nicht nur im Blätterwald.
Auch der berühmte englische Diskjockey und Radio-Moderator John Peel wurde durch ihre Debütsingle auf die Gruppe aufmerksam. Bereits im Spätherbst stellte er sie in seiner beliebten Sendung auf BBC Radio vor. Die Rückseite Searching hatte es ihm ganz besonders angetan. Das Hervorstechendste bei Searching ist die Mischung aus englisch klingendem Indie-Pop und dem kasernenhofartigen Refrain. Die Gitarre am Anfang, aber besonders am Ende des Songs, erinnert an den traurigen Ton einer Kirchenglocke und wird dadurch der Melancholie des Textes besonders gerecht. John Peel ist also der erste, der Marquee Moon außerhalb Deutschlands bekanntmacht.
Mit Don't Go Out Tonight, diesem unwiderstehlichen Ohrwurm, waren Marquee Moon, wie die Berliner Morgenpost feststellte, die im Jahr 1984 meistgespielte Independent Band Berlins.
Die Berliner Morgenpost vermerkte diesbezüglich weiter: „Pure Rockmusik, ohne modischen Krimskrams, das erinnert an Cure, Echo & The Bunnymen oder Banshees. Ihre Fangemeinde an der Spree haben sie sich bereits erspielt“. (17) Berlins großes Stadtmagazin Tip schreibt über die Single: „Anders als der Bandname vermuten läßt, eifern Marquee Moon nicht Television nach, sondern eher U2. Auf Don't Go Out Tonight ist das unüberhörbar. Nun ist die Gitarren-Patenschaft von The Edge gewiß keine Schande. Das Ergebnis kann sich jedenfalls hören lassen.“(18) Es war diese besondere musikalische Mischung, die die Band um Sänger Skid Byers so außergewöhnlich machte und ihrer ersten Single bis heute ein ganz besonderes Flair verleiht.
Marquee Moon - Die Unglaublichen
Nachdem Marquee Moon mit ihrer ersten Single bereits für Furore gesorgt und gerade erst die Weihen eines der weltweit einflussreichsten Radio-DJ`s erhalten hatten, folgte schon Ende des Jahres 1984 eine weitere Veröffentlichung auf der LP „Berlin Visions“. Dieser Sampler gab jungen Berliner Bands die Gelegenheit, sich einem großen, deutschlandweiten Publikum vorzustellen. Marquee Moon sorgten dabei mit Candy And The Golden Flies und The Poison Is Working für Begeisterung. Der Blickpunkt, das Jugend-Journal aus Berlin, kam bei der Besprechung der Schallplatte zu folgender Feststellung: „Die erste Entdeckung sind Marquee Moon. Sie überzeugen ohne Abstriche. Höre Candy And The Golden Flies und merke dir den Namen Marquee Moon. Marquee Moon ist eine Beatband mit psychedelischen Anklängen, mit Candy And The Golden Flies gelang ihnen ein überzeugendes Beatstück, das die Yardbirds vor zwanzig Jahren ohne Schwierigkeit zu einem Tophit gemacht hätten.“. (19)
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Die überregional erscheinende Musik Szene erstattete ihren Lesern kurz hintereinander gleich zweimal wie folgt Bericht: „Marquee Moon - bei ihnen stimmt einfach alles. Gitarrenpop mit Anlehnung an die Sixties. Keith Relf von den Yardbirds heißt jetzt Skid Byers. Den Song Candy And The Golden Flies hätten besagte Yardbirds nicht besser bringen können. The Poison Is Working ist eine gute Komposition, ein gutes Arrangement, wobei Baß, Gitarre und Schlagzeug füreinander spielen und sich dem Song dermaßen gut anpassen, wie man es leider nicht von den meisten deutschen Bands gewohnt ist. The Poison Is Working mixt diese Stimmung mit den abgehenden „Magazine“- Sachen.“
Besondere Erwähnung finden dabei auch Schlagzeuger Tom Petersen und Gitarrist Hanzy Nischwitz: „Toms schnörkelloses, sauberes Schlagzeug treibt die Songs unaufhaltsam voran und Hanzy Nischwitz, der sich gerne mit Andy Summers vergleicht, spielt treibend, glasklar und differenziert. Das hat Potential.“ Die Musik Szene notierte weiter: „Diese zwei Songs Candy And The Golden Flies,The Poison Is Working und ihre Single Don't Go Out Tonight verraten eine schizophrene Kollision von Sixties und Eighties. Doors, Velvet Underground, Yardbirds und Magazine, U 2, frühe Cure. Die Chöre sind galant, und Marquee Moon sollen mal ins Ruhrgebiet kommen, damit wir mit ihnen ein Interview machen können.“. (Gekürzte Zusammenfassung) (20)
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Der renommierte Musikjournalist Hans Jürgen Günther schreibt im Tip Berlin: „Die auf „Berlin Visions“ versammelten fünf Berliner Bands gehören zur Creme der Stadt. Die insgesamt überzeugendsten Töne kommen von Marquee Moon: Hochgeschwindigkeits-Rock mit Pop-Anspruch, der sich seine Inspirationen bei den Doors und den spätsiebziger New Wave-Bands holt. Die dunklen Texte stehen in einem spannenden Gegensatz zu der sehr vitalen Musik, die mit etlichen guten Ideen im Detail aufwartet. Von Marquee Moon wünsche ich mir eine LP, die anderen vier Bands sollten es zunächst mit einer EP oder einem Mini-Album probieren.“ (21)
Einer für alle(s)- oder: Tausche Mikrofon mit Telefon
So erfreut die Band über das ausnehmend positive Echo auch war, trat nun deutlich ein ernstes, gewichtiges Problem zutage. Aufgrund der beständig steigenden Nachfrage nach weiteren Schallplatten, frischem Songmaterial, neuen Informationen und Konzerten, insbesondere von Auftritten in Westdeutschland, wurde es immer deutlicher, dass sich schleunigst jemand schwerpunktmäßig um das Management der Band kümmern musste. Zuviele Anforderungen kamen auf die Band zu, die nicht mehr wie bisher so nebenbei erledigt werden konnten. Doch wem sollte man sich anvertrauen? Auf wen war Verlass? Wer könnte eine solche Band managen? Es sollte ja schließlich jemand sein, der voll und ganz hinter der Band stand und der an sie glaubte. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Die Band kannte auch keinen der diese Aufgabe hätte übernehmen können.
Deshalb machte Skid Byers, der sich bisher auch schon um viele organisatorische An- gelegenheiten der Band gekümmert hatte, im Frühjahr 1985 schweren Herz- ens, den Vorschlag, dass er selbst dies ab jetzt machen und den Gesangspart Nigel Degray überlassen würde. Byers war demzufolge bereit, künftig das Mana- gement der Band zu übernehmen. Das stieß jedoch auf erheblichen Protest und Widerstand der Rest-Gruppe. Besonders Nigel Degray zweifelte außerordentlich an der Richtigkeit dieser Ent- scheidung. Skid Byers war nicht nur ein ausgezeichneter Sänger, sondern sah darüber hinaus noch gut aus, war charmant und kam blendend bei der Presse insbesondere aber beim Publikum an.
Warum sollte man so jemanden gehen lassen? Doch die Zeit drängte und Byers beharrte auf seinem Vorschlag. Letztendlich war allen klar, dass das Management nur jemand übernehmen konnte, dem die Band hundertprozentig vertraute und der diese Aufgabe auch zu stemmen in der Lage war. Byers hatte in diesen Dingen bisher die meisten Erfahrungen gesammelt und zu ihm gab es keine wirkliche Alternative. Nach längerer Überlegung und ausführlicher Diskussion entschloss sich die Band schließlich, seinen Vorschlag anzunehmen und der Umbesetzung zuzustimmen.
Marquee Moon live mit Sänger Skid Byers
Doch es gab noch einen weiteren Grund, dem Wechsel zuzustimmen. Der Öffentlichkeit teilte die Band diesen anderen bittereren Beweggrund mit. Byers musste den Gesangspart wegen einer Ohrerkrankung abgeben und versuchte deshalb das Notwendige mit dem Nützlichen zu verbinden. Wenn es schon nicht das mit dem Mikrofon sein konnte, dann doch wenigstens das mit dem Telefon. So konnte er auch weiterhin ganz nah an der Band bleiben und vermutlich sogar noch mehr für sie tun als zuvor.
Bereits kurze Zeit später erwies sich der Wechsel in zweierlei Hinsicht als nutzbringend. Degray präsentierte sich als würdiger Nachfolger und fand schnell Gefallen an der Rolle des Frontmanns. Auch eine gewisse Ähnlichkeit der Stimmen von Byers und Degray erwies sich als glückliche Fügung und erleichterte den Wechsel zusätzlich.
Auch Byers zeigte sich der Aufgabe gewachsen. Er erwies sich in seiner neuen Manager-Position als wahres Organisationstalent. Er sprühte nur so vor Tatendrang, Begeisterung, und Ideen. Er stellte sich vollständig in den Dienst der Band und ging gänzlich in diesem Job auf. Es verging kaum eine Woche, in der er nicht eine neue Idee hatte und diese sofort in die Tat umsetzte. In den kommenden Jahren kümmerte er sich um alles, was die Band betraf.
Er sorgte sich um jede Kleinigkeit, koordinierte alle Aktivitäten und überließ so gut wie nichts dem Zufall: Von Verhandlungen mit Veranstaltern, Plattenfirmen oder Musikverlagen, von der Organisation der Auftritte und Foto-Sessions über die Covergestaltung der Schallplatten bis hin zur Bühnen-ausstattung. Von Gesprächen mit Musikredakteuren von Zeitungen und Musikzeitschriften oder Besuchen von Rundfunk und Fernsehanstalten zu Promotion-Zwecken, bis hin zum Schreiben von Drehbüchern für Musikvideos der Band. Bis ins kleinste Detail wurde alles von ihm geplant und organisiert. Er stand hundertprozentig und mit ganzem Herzen hinter der Band und tat absolut alles, um sie bekanntzumachen und nach vorne zu bringen.
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Heutzutage würde man ihn wahrscheinlich als eine Art Spin-Doctor bezeichnen. Für die Band war ihm keine Anstrengung zu viel. Oft sah man ihn bis tief in die Nacht arbeiten und zum Beispiel Infomaterial und Schallplatten in große Umschläge packen, um sie an Veranstalter oder Presseleute zu schicken. Wenn es um Marquee Moon ging, kannte er keine Uhr und das sollte über viele Jahre so bleiben.
Guerilleros gegen das kulturelle Establishment
Der Wechsel war vollzogen. Neuer vierter Mann wurde Humphy Sabothe, aus dem Bekanntenkreis von Drummer Tom Petersen, Kunststudent und Lebenskünstler zugleich. (22) Er übernahm von Nigel Degray den Basspart. Zusätzlich bereicherte Degray den Sound der Band noch um eine weitere Gitarre. Beim Gesang wechselten sich Degray und Sabothe teilweise ab, wobei Degray jedoch den weitaus größeren Teil bestritt. Infolge des Sängerwechsels entschloß sich die Band die beiden Titel The Poison Is Working und Candy And The Golden Flies noch einmal neu mit Degray einzusingen, um sie auf ihrer ersten LP zu veröffentlichen.
Im Juni 1985 schrieb der Blickpunkt in einem aufschlussreichen Bericht über verschiedene Bands der Berliner Musikszene: “Marquee Moon sehen sich als Guerilleros im Kampf gegen das kulturelle Establishment. Ihre persönlichen Prioritäten sind daher nicht Ruhm und Erfolg, sondern das Finden der persönlichen Linie. Was diese Gruppe aus ihren Vorbildern macht, stempelt sie zur ungewöhnlichsten in diesen Spalten. Mehr und mehr setzt sich die Linie Marquee Moon’s musikalisch durch.“ (23)
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Trotz der Veränderungen am Line-up der Band blieb es weiterhin bei der altbewährten, bisherigen Aufteilung des Songschreiber-Duos: Degray komponierte die Songs und Byers verfasste die Texte. Einen kleineren (aber superben) Teil an Kompositionen steuerten Nischwitz und Sabothe bei.
Skid Byers- Der Mann im Hintergrund
Von nun an zog Skid Byers im Hintergrund, sehr effektiv, die Fäden. Er wird bald, wie es Hanzy Nischwitz formulierte, zum „Mastermind“ der Band. Als „Quereinsteiger“, ohne weitere Erfahrung auf dem glatten, mitunter tückischen Showparkett, musste Byers anfangs einiges Lehrgeld zahlen. Dessen ungeachtet gelang es ihm innerhalb kurzer Zeit bei unterschiedlichsten Ansprechpartnern seine Zuverlässigkeit und sein Können unter Beweis zu stellen und sich einen guten Ruf als Manager und Organisator zu erarbeiten.
Durch seine geschickte Präsentation der Band und den schnellen Aus- und Aufbau von Kontakten zu Printmedien, Rundfunkanstalten und TV-Sendern sorgte er für etliche Interviews in Zeitschriften und Zeitungen im Rundfunk und im Fernsehen sowie für die Vermittlung zahlreicher Liveauftritte des Vierer-Gespanns in Berlin und Westdeutschland. Es dauerte nicht lange, bis auch andere Bands und Veranstalter an ihn herantraten und ihn baten, Auftritte für sie durchführen.
So organisierte, vermittelte und betreute er Konzerte für Gruppen wie X-Mal Deutschland, Leningrad Sandwich, My Bloody Valentine, Plan B, The Subtones, Santrra, The Smash, The Wedding Bells… oder verhalf ihnen zu Auftritten im Zusammenhang mit Marquee Moon-Konzerten. Da jedoch die Tätigkeiten für andere Bands unerwartet schnell anwuchsen und plötzlich einen großen Teil seiner Zeit beanspruchten, musste er sie schließlich wieder herunterfahren und in der Folge vollständig einstellen.
Als Macher hinter den Kulissen leistete er alsdann weiter ganze Arbeit für seine eigentlichen Favoriten. Er kümmerte sich intensiv um alle Angelegenheiten der Karriereförderung Marquee Moons und erwies sich als ausnehmend talentierter Stratege für diese Aufgabe. Die unter- schiedlichsten Partner bescheinigten ihm dafür ein gutes Gespür und unterstützten seine Bemühungen, die Gruppe aufbauen. Die Band war neben zahlreichen Fernseh- und Rundfunk- Auftritten wie z.B. dem beim WWF Club, dem Music Convoy des SWF, beim RIAS, SFB, Mambo-Musikjournal, bei der Havelwelle, der Nachtschau, beim WDR, HR, Musicbox, Beat the Beat, TV-Blau/Weiß, Sat 1, beim NDR oder ORF… auch der Headliner auf dem ersten Independent Festival in Ost-Berlin1988. Das Konzert wurde dabei für den DDR Jugendsender DT 64 mitgeschnitten und einige Tage später gesendet.
Durch diese Aktivitäten und viele weitere Liveauftritte, wie z.B. in Berlin im Loft, im Quartier Latin, in der Villa Kreuzberg, der Dachluke, der Freilichtbühne Hasenheide, dem KOB, oder Quasimodo, dem NOX , in der Alten TU-Mensa, dem Tempodrom oder in Hamburg in der Fabrik, der Markthalle und dem Logo, sowie durch weitere Konzerte wie etwa: Zeche Bochum, PC 69 Bielefeld, Okie Dokie Neuss, Schlachthof Bremen, JZW und Live Stadion Dortmund, CAT Ulm, Stadthalle München, ZAKK Düsseldorf, Luxor Köln, Batschkapp Frankfurt/Main… war die Gruppe bald deutschlandweit bekannt. Später folgten viele weitere Auftritte im Ausland und auf zahlreichen Festivals.
Hanzy Nischwitz Nigel Degray Humphy Sabothe Tom Petersen
Beyond The Pale- oder: Aufbruch zum Erfolg
Das Erscheinen ihrer ersten LP, Beyond The Pale 1985, legte den Grundstein für ihren späteren Ruf als Aushängeschild der musikalischen Untergrundbewegung in Deutschland. (24) Ihre Beyond The Pale-Tour brachte die Stärken der Band auch live hervorragend zur Geltung. Bereits kurz nach Erscheinen der LP erreichte der Titelsong Beyond The Pale Platz 6 der internationalen Hitparade des SFB. (25) Dies war deshalb besonders bemerkenswert, da es von diesem Song keine Single-auskopplung gab. Das war bis dahin noch keiner anderen deutschen Independentband gelungen.
Diese erste LP war ganz ohne Effekthascherei, in der klassischen, altbewährten Rockinstrumentierung gehalten, geprägt durch eine seltsame Mischung aus Mystik und Melancholie. Eingebettet in eine ganz eigenwillige Stimmung, zwischen dunklen, mächtigen, aggressiv treibenden Gitarren und Degrays hypnotisierendem Gesang wurde diese Platte zu einem berauschenden Trip. Das war erstklassiges, düsteres Kopf-Kino. Marquee Moon durchbrachen, wie bereits bei Don’t Go Out Tonight und Searching, auch auf dieser LP immer wieder mal den gewöhnlichen Songablauf und arrangieren ihn auf ihre charakteristische Weise um, ohne ihm dadurch zu schaden. Das verlieh besonders ihren frühen Songs einen eigenen Touch und drückte ihnen einen individuellen Stempel auf. Hier zeigten sich bereits Degrays beeindruckende songschreiber- ische Fähigkeiten, die auf der nachfolgenden LP zu noch größerer Entfaltung kommen sollten.
Ausflug ins Land der Poesie
Byers Texte der Beyond The Pale - Songs sind tiefgründig und persönlich. Viele tragen autobiographische Züge. Häufig spielen Selbstzweifel, Melancholie, Ungewissheit, Angst aber auch Wut eine zentrale Rolle. Byers schaffte es bei jedem Song, die jeweilige Stimmung genau auf den Punkt zu bringen. Seine Art zu texten erwies sich als echte Bereicherung und als wirklicher Glücksfall für die Band.
Seine Gedanken über Gefühle und Werte, insbesondere über die Liebe und seine Hoffnung auf eine bessere, friedlichere Welt, lassen den Hörer in einem bisweilen paradoxen, traumhaften Zusammenspiel nicht unberührt. Es war seine große Stärke, dass er gleich beim ersten Hören Appetit auf mehr machte, wenngleich einige Texte recht surrealistisch erschienen und nicht immer sofort zu entschlüsseln waren.
Aber genau das machte die besondere Faszination seiner Poesie aus. Ein Verdienst des Künstlers und seiner lyrischen Qualitäten. Ab der zweiten LP wurden deshalb alle Texte auf den Innenhüllen der Platten abgedruckt. Den Texten wird auch heute noch ein beachtlicher Stellenwert beigemessen.
Im Rausch der Sinne
Songs wie das Titelstück Beyond The Pale, das rockige, Sixties angehauchte Candy And The Golden Flies und das eigenwillige The Poison Is Working, mit seinem druckvollen, treibenden Rhythmus können daher sowohl durch einfallsreiche, großartige Melodien als auch durch tief- gründige, ausdrucksvolle Texte überzeugen. Insbesondere das dynamische Titelstück Beyond The Pale mit seiner bedrohlich charmanten Melodie, der treibenden Gangart zwischen eindringlich gesungenen Lyrics und hart dröhnenden Gitarren hatte es der Fangemeinde angetan. Gekoppelt mit einem eingängigen Refrain ist dies der Prototyp des unverkennbaren Marquee Moon-Sounds und bis heute eines ihrer bekanntesten und meistgespielten Stücke.
Die melancholische Hymne dieses Albums ist jedoch She's A Dancer mit diesem sehr gefühlvollen, melancholischen Intro, dem anschließenden harten Break und der unter die Haut gehenden Melodie. Der Song Prince Of Darkness darf ohne Zweifel als das Glanzstück dieser Platte angesehen werden und hat nicht zu Unrecht Musikgeschichte geschrieben. Auch John Peel war von dem Song so begeistert, dass er ihn gleich nach Erscheinen seinen Hörern vorstellte und noch oft in seiner Sendung spielte.
Dies ist einer jener Songs, der in späteren Jahren Degray zum Hexenmeister der schwarzen Gemeinde und Marquee Moon zu Galionsfiguren der Gothic-Ära macht. Ein herausragendes Stück, bei dem Edgar Ellen Poe und Caspar David Friedrich gleichermaßen gedanklich Pate gestanden haben könnten. Beginnend mit einem düsteren Langsam-Schnell-Schema voll sorgenvoller, bedrückender Vorahnungen gewinnt der Song schnell an Drive und kommt mit seinem textlichen Hintergrund den beunruhigenden Gedichten Baudelaires nahe, Verderben, Hoffnungslosigkeit, Tod. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Song nachfolgend auch von anderen Bands gecovert wird und bis heute die Fangemeinde begeistert und immer wieder auf die Tanzfläche treibt.
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Ein weiteres (ebenfalls von anderen Bands gecovertes) Meisterwerk ist das rätselhaft, dunkle Hyacinth Hideout. Textlich angelehnt an den Doors-Klassiker „Hyacinth House“ vom letzten Doors-Album „L.A. Woman“ befasst sich der Song mit dem mysteriösen Tod Jim Morrisons 1971 in Paris und dessen Todesumständen, die nie geklärt werden konnten. Eine geniale schwermütige musikalische Kurzfassung, um die sich hartnäckig haltende Verschwörungstheorie über einen möglicherweise inszenierten Tod Morrisons oder sogar dessen Ermordung. Drückend schwere Riffs erzeugen eine mystisch-psychedelische Stimmung bei der man besser nicht die Augen schließt.
Auch dieser Song hat wesentlich zum „Mythos Marquee Moon“ beigetragen. Durch die Songs dieses Albums wurden sie zu bedeutsamen Wegbereitern und späteren Ikonen des Dark-Wave bzw. Gothic-Rock in Deutschland. Mit den Songs dieser LP sichern sie sich bis heute regelmäßige Stammplätze in den unterschiedlichsten DJ-Playlists.
Deutschlandtour mit den Ramones 1985
Eine kleine Anekdote
Die Ramones und Marquee Moon verstanden sich auf Anhieb. Schon deshalb, weil alle fünf „Moonies“ bereits seit vielen Jahren große Ramones-Fans waren. Nach den Auftritten saßen sie zusammen und redeten über Gott und die Welt. Am meisten redeten sie aber über Musik, Instrumente und das Musikgeschäft.
Es wurde viel geraucht und getrunken, sehr viel geraucht und getrunken.
Hanzy erzählte in diesem Zusammenhang immer gerne folgende kleine lustige Begebenheit:
Als die beiden Bands nach einem Auftritt bis tief in die Nacht beisammen saßen, wurde wieder einmal viel getrunken, geraucht, gequatscht und gelacht.
Irgendwann machten sich dann die meisten aber doch auf, um noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen, Hanzy und Joey Ramone schließlich auch. Während sie beide über die Hotelterrasse wankten, fielen ihnen fast schon die Augen zu.
Plötzlich lief Joey in vollem Lauf gegen eine kleine Laterne, die zur Terrassenbeleuchtung diente.
Joey war allerdings so breit, dass er gar nicht mehr bemerkte, dass es sich um eine Laterne handelte. Voller Reumut über den von ihm verschuldeten Zusammenstoß entschuldigte er sich wortreich bei der Laterne und bat sie um Verzeihung. Ohne eine Antwort abzuwarten, schwankte er dann in sein Zimmer.
Hanzy konnte sich vor Lachen gar nicht mehr halten und hätte sich allen Ernstes fast in die Hose gemacht. Noch viele Jahre später erzählte er immer wieder gerne davon und war darüber stets aufs Neue amüsiert.
Informationsblatt der Ramones für die Deutschlandtour
Deutschlands schärfste Pop-Underground Band
Diese erste LP war ein beachtlicher, bemerkenswerter Einstand und trug der Band den Ruf ein, „die schärfste Pop-Underground Band Deutschlands“ zu sein. (26)
Die Reaktionen der Presse zu Beyond The Pale waren durchweg positiv, teilweise geradezu euphorisch. So forderte die Berliner Zitty: „Weitermachen, Jungs!“ und die Münchner Stadtzeitung verkündete: „Es gibt in Deutschland wenige Neo-Psychedelia Bands, die über reines Epigonentun in Sachen Sisters Of Mercy/Lords Of The New Church etc. hinauskommen. Das Berliner Quartett Marquee Moon schafft das. Die zweite Seite ihrer Mini-LP bietet schwere, umwerfend wirksame Psycho-Rock-Riffs, die aber bei aller Düsternis nie Depression ausstrahlen, sondern immer noch einen guten Schuß „Jetzt-erst-recht"- Renitenz und sarkastische Lebensfreude vermitteln.“ (27) (28)
Plärrer, das Stadtmagazin für Nürnberg, Fürth und Erlangen schrieb: „Kraft- und phantasievoller Power-Beat dröhnt aus den Boxen, aber genau mit dem entscheidenden Kick, der fesseln kann. Auch schaffen es die vier Neu-Beatniks, einen spannungsreichen Bogen zwischen dunkel-düsteren und freundlich-sonnigen Melodien herzustellen.“. (29)
Der Berliner Tip formulierte seine Beurteilung folgendermaßen: „Marquee Moon haben sich mit Durchblick, Sorgfalt und Spielwitz eine englischsprachige Rock-Variante zurechtgelegt, die weitab von totgeackerten Feldern angesiedelt ist. Aber das eigentlich erstaunliche an der Marquee Moon-Musik ist, daß sie zu keinem direkten Vergleich mit diesen großen Inspirationsquellen provoziert, weil die selbstbewußt entwickelte eigene Linie eine ganz andere Parallele erkennen läßt: Das australische Beispiel. Genauso wie die Bands vom fünften Erdteil zunehmend abgekoppelte Klangwelten installieren, kann auch Marquee Moon ungestraft Dinge tun, die bei sorgsamer Pflege der Keim eines neuen positiven Ansatzes hierzulande sein könnten.(…) Alles in allem das prächtige Debüt-Album einer Band, von der noch größere Sachen zu erwarten sind.“ (30)
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Die Music Szene äußerte sich in gleicher Weise: „Gehen Marquee Moon weiter in diese Richtung, kann aus ihnen wesentlich mehr als die Vorgruppe der Ramones werden“. (31) „Mit Beyond The Pale ist Marquee Moon aus Berlin eine überdurchschnittlich gute Platte gelungen.“, applaudierte die Szene-Hamburg und sogar die Bravo jubelte: „Die Urheber dieser kohlschwarzen Hart-Scheibe stammen aus Berlin und bringen dort Psychedelic-Fans zum Ausrasten.“ und weiter: „Marquee Moon hauen besser rein als die Sisters of Mercy. Liegt vermutlich an ihren Fähigkeiten als Songschreiber. Riesig“. (32) (33)
Der Tip-Siegerland formulierte beeindruckt: „Die Berliner Band, die Anfang 1984 von Skid Byers und Nigel Degray gegründet wurde, steht mit ihrem musikalischen Konzept in der Bundesrepublik und Berlin einzig da. Nur internationale Vergleiche, wie etwa The Cure, Magazine oder U2 lassen sich heranziehen um ihrer Bedeutung auch für die Zukunft gerecht zu werden. Die Songs auf ihrer LP Beyond The Pale sind Beweis dafür, wie es sich anhören muß, um süchtig nach noch mehr Material zu werden.“ (34)
Ohne es selbst überhaupt zu realisieren, wurden sie mit diesem Album auf einen Schlag zu Vorreitern eines Genres, das es in Deutschland noch garnicht richtig gab, da es sich erst zu entwickeln begann.
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Zehn Jahre später wird im Gothic- und Dark Wave-Lexikon zu lesen sein: „Marquee Moon werden in erster Linie durch ihre erste LP legendär und stoßen auch im europäischen Ausland auf großes Interesse.
Beyond The Pale enthält mit Songs wie Prince Of Darkness und dem Titeltrack gleich zwei Klassiker des deutschen Gothic. Das Album Beyond The Pale von Marquee Moon wird heute zu den wichtigsten Platten der Dark-Wave-Bewegung gerechnet“. (35)